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Warum Paradigmen?

Einige Überlegungen zur Legitimation der Paradigmen-orientierte Didaktik

von Günter Sämmer

 

1. Allgemeine Grundsätze
1.1 Weltanschauung ist auch Wegschauen: Von Paradigmen und Sprachspielen und der Wahrheit

a) Wir sehen zwei Gesichter oder eine Vase. Niemals beides!

Wahrnehmung ist nur möglich, durch Nichtwahrnehmung. Jede Wahrnehmung schließt alle anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten aus. Selektivität ist für die Wahrnehmung konstitutiv.

Wir sehen nur, weil wir für das meiste andere blind sind. Etwas sichbar machen heißt immer, im gleichen Akt etwas anderes unsichtbar machen. ( Welsch, 1993; S.31) 

 

b) In seinen „Philosophischen Untersuchungen" gibt Wittgenstein für unsere Art der „Weltanschaung" folgendes Beispiel aus der Wahrnehmungspsychologie:

Stellen Sie sich vor, in einem Buch stehen folgende Illustrationen zu einigen im Text besprochenen Gegenständen:

Dies ist eine umgestülpte Kiste Dies ist ein Quader aus Draht Dies sind drei Bretter  Dies ist ein Quader aus Glas

 

Wir können die Illustrationen „einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. - Wir deuten Sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten". (Wittgenstein, 1984; Philosophische Untersuchungen, XI, S. 519)

„Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen." (Wittgenstein, 1984; Philosophische Untersuchungen, 115, S. 300)

 

c) „Dabei ist keineswegs bloß an sinnliche Wahrnehmung zu denken, sondern an Wahrnehmung allgemein, vornehmlich an ein Erfassen originärer Sachverhalte, die als originäre eben nur durch wahrnehmungartige Vollzüge erschlossen und nicht etwa logisch-induktiv oder -deduktiv gewonnen werden können. Wahrnehmungen dieser Art haben mit Innewerden, Gewahrwerden, Merken, Spüren zu tun. Es geht darum, Erstbedeutungen auf die Spur zu kommen."

(Welsch, 1993; S. 109)

 

d) Es geht also um die „Grundbilder, die unseren Wirklichkeitszugang leiten". Diese Bilder sind Fallen:

„ Denn wer diese Bilder, die unsere individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit durchherrschen, nicht irgendwann in ihrer Spezifität und Massivität vor Augen bekommen hat, der wird, in ihrem undurchschauten Glanz sich sonnend, ein Leben lang nach ihrer Pfeife tanzen müssen.

Ich denke etwa daran, wie Bilder von Mann und Frau, von Geschlechtlichkeit und idealem Zusammenleben, die uns in der familiären Kindheit eingesenkt wurden, unser Wahrnehmen und Verhalten fortan imprägnieren. Stets handeln wir im Duktus solcher Grundbilder. Gerade als unbewußte sind sie wirksam." (Welsch, 1993; S. 34/15)

 

e) Sie erleben auf der Straße, wie eine Mutter ihrem 2-jährigen Kind eine Ohrfeige gibt. Welche der unten stehenden Fragen würde ihnen zu allererst einfallen?

1. Wieviel Schreckliches mag die Mutter in der eigenen Kindheit wohl erlebt haben, daß sie nun ihr Kind schlägt?

2. Wie mag sich das Kind jetzt fühlen?

3. Was mag zuhause bei denen wohl nicht in Ordnung sein?

4. Ob das Kind sich in Zukunft anders verhält?

5. Ob das die natürliche Bindung zwischen Mutter und Kind beeinträchtigt?

6. Was hat die Mutter damit nur beabsichtigt?

Nur eine dieser Fragen kann die erste sein - dann kommt vielleicht noch die zweite und die dritte. Alle anderen aber schließen wir aus. Je nachdem, worauf wir achten, empfinden wir Mitleid oder Wut (mit Mutter oder Kind), handeln wir (sprechen die Mutter an oder schimpfen laut) oder handeln wir nicht, denken wir weiter darüber nach oder vergessen es. Das, was unsere Wahrnehmung auf einige dieser Fragen lenkt und damit die anderen ausschließt, ist unser persönliches psychologisches Paradigma.

 

f) Wenn jede Wahrnehmung andere ausschließt, wie wahr ist dann eine Wahrnehmung? Jede Wahrnehmung ist subjektiv! Das wissen Psychologen besser als andere. Das ist oft das erste, was wir unterrichten. Aber wenn nichts wirklich und allein wahr ist, weil auch noch etwas anderes (für-)wahr-genommen werden kann, ist dann alles beliebig? Natürlich nicht! Wer Beliebiges (für)-wahr-nimmt ist ja ver-rückt. Er ist aus der Gesellschaft herausgerückt, er „spielt nicht mehr mit". Er nimmt nicht mehr teil am gesellschaftlichen Sprachspiel.

 

Unsere Anschauung, also unsere Sicht von der Welt unterliegt nämlich, so Wittgenstein, unserer Deutung, denn wir „sehen sie, wie wir sie deuten" (s.o.). Unserer Deutung ist aber Gegenstand unseres sozialen Sprachspiels: Woher wissen wir was was bedeutet? Wittgenstein erläutert dies am Beispiel des Schachspiels: Um die „Bedeutung" einer Schachfigur zu erfahren, beobachten wir ihren Gebrauch, oder lassen ihn uns erklären. Die Spielregel beschreibt den Gebrauch der Figuren. Das ist ihre Bedeutung. Daraus folgt: Bedeutung entsteht aus den Regeln des Sprachspiels.

 

Beispiel: „Reaktion" darf man nur zu etwas von außen Beobachtbarem sagen, niemals zu inneren Vorgängen: wir sind mitten in einem Sprachspiel, dem des Behaviorismus. Wer von „Gefühlen" als „Reaktionen" auf „Erlebnisse" spricht, spielt ein anderes Spiel; und wenn er Behaviorist ist, dann darf er dies nicht mehr sagen, oder er muß gehen. Der Streit um Worte ist der Streit um die Regeln des Sprachspiels. (Deshalb versuchen Politiker, Themen und Begriffe zu „besetzen")

 

g) Was aber ist die wahre Bedeutung? In Sprachspielen geht es nicht um Wahrheit (Lyotard, 1993), sondern ums Kämpfen im Sinne des Spiels. (Was sollte auch, um Wittgensteins Schach-Beispiel zu nehmen, die „Wahrheit" der Bedeutung des Bauern sein?). Man ringt stets um die Regeln, man ringt um soziale Anerkennung von Sprachspielregeln. Diese ist verbunden mit der Anerkennung der Bedeutung, also mit der Anerkennung der Anschauung von der Welt.

Eine Wahrnehmung von allen möglichen wird anerkannt. Sie setzt sich durch. Die Regeln des Sprachspiels, seine „Wahrheit", sind Gegenstand eines expliziten oder impliziten Vertrages der Mitspieler. Es gibt die Wahrheit nur, solange darüber Konsens herrscht oder genügend Macht, sie den anderen aufzudrängen, also die Spielregeln zu diktieren.

 

h) Folgerungen (nach Lyotard):

1. Wahrheit gibt es immer nur in Relation zu einem Sprachspiel

2. Wahrheit gibt es immer nur als Konsens.

3. Wahrheit kann immer nur lokal sein.

1.2 Die Illusion von der einzigen Wahrheit und ihre totalitären Folgen

a) Die gesamte Geschichte der Menschheit ist geprägt von großen gesellschaftlichen Entwürfen. Ein „Großer Entwurf" ist ein universelles Sprachspiel mit Wahrheitsanspruch, und er prägt

  • Wahrnehmungschemata für wissenschaftliche, gesellschaftliche, private Gegebenheiten,
  • Erklärungsprinzipien für „Zusammenhänge" in der Welt,
  • Handlungsmuster für soziales Handeln und für den Umgang mit uns selbst,
  • Gefühlsmuster und Affekte, was wir wie empfinden sollen, was wir wie erleben
  • Denkstile, typische Schlußweisen und Assoziationen
  • das Werteraster, mit dem „richtig" oder „falsch", „gut" oder „schlecht" entschieden wird,

kurz: große Entwürfe prägen unseren Entwurf von der Wirklichkeit. Sie bestimmen soziale, politische und persönliche Lebensbereiche. Sie prägen unsere Auffassungen von Wissenschaft und Wahrheit, von Vernunft und Gerechtigkeit. Und sie tun dies, indem sie fundamentale, „richtige" Sichtweisen festlegen und „richtige" Handlungsmuster. Große Entwürfe beanspruchen Wahrheit und Universalität sie schließen alles andere aus und etablieren Herrschaft: der „Totalausgriff" von Theorie ist stets mit Herrschaftsansprüchen verbunden (vgl. Horkheimer & Adorno in der „Dialektik der Aufklärung")

 

b) Lange Zeit, eigentlich von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, solange wir eben „denken können", hat es in unserer Kultur große Entwürfe gegeben, die Allgemeingültigkeit beansprucht haben, weil sie vorgaben „wahr" zu sein, und weil sie „geglaubt" wurden (vgl. Welsch, 1992):

  • bis zum Mittelalter der von Glaube und Kirche,
  • seit der Aufklärung der von Emanzipation durch Wissenschaft,
  • dann die Befreiung der Menschheit durch die Revolution des Proletariats

Mal sollte am „deutschen Wesen die Welt genesen", dann an der „Wertegemeinschaft der freien Welt", mal war es der „Sozialismus", mal auch „nur" die Vernunft.

 

In den letzten 100 Jahren wurden die Bemühungen, einen großen Entwurf durchzusetzen, immer radikaler. Zählten die Opfer der Inquisition noch nach Tausenden, so ging die Zahl der Toten durch Stalinismus und Nationalsozialismus auf die 100 Millionen zu.

Lyotard sieht diese Entwicklung begründet in der prinzipiellen Annahme, es gebe nur eine Wahrheit. Totalitär werden kann nur, wer Wahrheit grundsätzlich für mögliche hält: „Für diese Illusion" von der Einheit der Vernunft und von der Wahrheit der Erkenntnis haben wir den „Preis des Terrors zu entrichten". „Das 19. und 20. Jahrhundert haben uns das ganze Ausmaß des Terrors erfahren lassen. Wir haben die Sehnsucht nach dem Einen, die Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt." (Lyotard, 1990; S. 48)

 

Folgerung (nach Welsch und Lyotard):

Die Aufklärung setzt sich nicht fort im Ringen um „die" Wahrheit, sondern im Respekt vor den Unterschieden. Nur die gegenseitige (!) Achtung unterschiedlicher Lebensentwürfe, unterschiedlicher Gefühls- Erlebens- und Wahrnehmungsformen kann uns vor dem Tatalitarimus von Wahrheitsansprüchen bewahren.

1.3 Die „postmoderne" Persönlichkeit und ihre „Pluralitätskompetenz"

 


 

a) Nun braucht man das „Ende der großen Entwürfe" weder zu fordern, noch zu erkämpfen, noch herbeizuargumentieren. Im Grunde sind alle großen Entwürfe längst am Ende! Sie mögen ja noch existieren und auch noch weiter propagiert werden, aber wir glauben sie nicht mehr (vgl. Welsch, 1992).

 

Natürlich, wir nehmen an, daß bei manchen „was dran" ist, aber das tun wir auch bei den anderen. Die Mehrheit von uns gehört nämlich längst zu den „postmodernen Subjekten" (Welsch, 1992) mit gut ausgebildeter Pluralitätskompetenz. Es existieren nämlich „in allen kultivierten Köpfen die verschiedensten Ideen und gegensätzlichsten Lebens- und Erkenntnisprinzipien frei nebeneinander" und „die Mehrzahl unter uns wird über denselben Gegenstand mehrere Ansichten haben, die untereinander im Urteil ohne weiteres abwechseln" (Paul Valéry).

 

Am Morgen sind wir rationale Geschäftsläute, die sich mit großer Sicherheit im Sprachspiel der Profitmaximierung bewegen, und am Abend sind wir Kunstepigonen, die das Sprachspiel des Genusses und der Selbstverwirklichung beherrschen (wohl gemerkt wir tun nicht so, wir sind es!)

 

Einmal mahnen wir Lehrer bei SchülerInnen, mit Autorität und in strengem Ton, Ordnung und Disziplin an und appellieren an ihre Verantwortung für ihre berufliche Zukunft (ganz im Sprachspiel des bürgerlichen 19. Jahrhunderts). Ein anderes Mal fordern wir auf zu solidarischem Handeln, stellen uns der Kritik der SchülerInnen und begeben uns in einen (Habermas'schen) Diskurs mit ihnen.

Jedenfalls bewahren wir nach dem Zerfall der „Wahrheit" unsere Handlungsfähigkeit durch „Pluralitätskompetenz" durch den Umgang mit „wechselnden Wahrheiten". (Welsch, 1992)

 

b) Niemand mehr, so Welsch (1991; S. 49) ist heute kompetent, „der nicht die Erfahrung gemacht hat, daß etwas, was in einer Perspektive völlig klar ist, in einer anderen Betrachtungsweise ebenfalls - aber ganz anders - klar sein kann." Und er fordert als Folge daraus eine Kultur des blinden Flecks.

 

Angesichts einer immer mehr „multikulturell" sich entwickelnden Umgebung wird die Akzeptanz und Empathie für „fremde Welten" zu einer Frage der Ethik: auf Menschen, deren Anderssein man „von innen heraus" nacherleben kann, deren kulturelle Welt man auch in ihrem Lebenswert schätzen lernt, auf solche Menschen wirft man keine Brandflaschen!

 

Voraussetzung ist, sich in eine andere Welt hineinversetzen, die Dinge (auch) „aus der anderen Sicht" sehen zu können. Erst der Perspektivwechsel ermöglicht es uns aber nachzuempfinden, was aus einer anderen Perspektive, in einem anderen Sprachspiel, erlebt werden kann. Die Entscheidung für ein einziges Sprachspiel würde uns für dessen Schwächen blind machen, wir blieben egozentrisch.

1.4 Für eine „Kultur des blinden Flecks": Lernen, die Perspektive zu wechseln

a) Wie lernt man aber schon in der Schule Pluralitätskompetenz? Wie lernt man aus einer fundamental anderen Sicht zu sehen, aus einem fundamental anderen Empfinden zu fühlen? Und wie lernt man, aus solchen „Differenzen" heraus zu handeln?

 

Wahrscheinlich doch nicht dadurch, daß man sich „frei" für einen großen Entwurf entscheidet und an diesem dann „charakterstark" und „konsequent" festhält. Dies führt unweigerlich wieder zu blinden Flecken, zu neuem Unverständnis. Erst recht natürlich nicht, wenn man einen Entwurf als „den besten" (weil „kritischsten", oder aus welchem Grund auch immer) aufgenötigt bekommt.

Man muß lernen, die Perspektive zu wechseln, und auch der anderen Perspektive ihre Reize abzugewinnen.

 

„Was ist daran, daß ihre Vertreter so begeistert sind?" Dies sollte eine zentrale Frage der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Entwürfen werden. Immer wieder aus der Sicht anderer sehen zu lernen, ist der Sinn der neuen Zielsetzung, der „Pluralitätskompetenz".

 

b) Das Erbe der Aufklärung und der „Kritischen Theorie" sieht Welsch in dieser Auffassung von Pluralität und Differenz aufgehoben:

Dies ist die „Kultur des blinden Flecks": Es geht „um Sensibilisierung für Pluralität und Differenz." - Es geht um eine kritische Kultur. Es geht um eine „Schule des Andersseins". (Welsch, 1993; S. 38/39)

 

2. Über den Psychologieunterricht
2.1 „Wissenschaftspropädeutik" oder „Lebenshilfe" - eine längst überwundene Alternative

Nach unseren Erfahrungen mit den Psychologielehrern der Sekundarstufe II in vielen Verbandstagungen und Fortbildungsveranstaltungen, insbesondere aber nach den Untersuchungen von Gislinde Bovet über die obersten Ziele des Psychologieunterrichts glauben wir, von folgenden Konsensannahmen ausgehen zu können:

 

a) Konsensannahme 1: Vermittlung wissenschaftlicher Modelle

Im Psychologieunterricht sollen vor allem

  • wissenschaftliche Erklärungsmodelle (aus den Teildisziplinen der Psychologie) und
  • wissenschaftlich begründete Handlungsmodelle (aus der Angewandten Psychologi

vermittelt werden.

 

b) Konsensannahme 2: Alltagsrelevanz und „Selbsterfahrung"

Psychologische Erklärungs- und Handlungsmodelle werden an solchen psychischen Phänomenen erfahrbar gemacht, die im (vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen) Alltag der Schüler bedeutsam sind. Sie werden stets auf wesentliche alltägliche Fragen und Problemstellungen bezogen und auch unter diesem Kriterium ausgewählt. Damit ist die Alltagsrelevanz der Anwendung psychologischer Gesetzmäßigkeiten immer Unterrichtsthema.

 

„Selbsterfahrung" bedeutet unmittelbare Erfahrung (nicht nur Beschreibung) und unmittelbares Erleben psychischer Phänomene, z.B. in Experimenten, Demonstrationen, Übungen, Rollenspielen. Einschränkung: Psychotherapie kann Unterrichtsgegenstand sein, findet aber selbst im Unterricht nicht statt.

 

c) Konsensannahme (Synthese): Lebenshilfe durch Wissenschaftspropädeutik

Gislinde Bovet beschreibt die Vorstellungen der von ihr untersuchten Lehrer über den unteilbaren Zusammenhang von Lebenshilfe und Wissenschaftspropädeutik, und wir glauben, daß diese durchaus von der überwiegenden Mehrheit der Psychologielehrer geteilt werden:

 

„'Lebenshilfen geben' heißt für sie (die Lehrer) auf der konkreteren Zielebene (...), daß sie ihren Schülerinnen und Schülern ein psychologisches Wissen geben, das bedeutungsvoll, nützlich und anwendbar ist, jetzt oder in Zukunft, in alltäglichen oder in Krisensituationen. Wenn sie ihnen dieses lebenswichtige Wissen geben, leisten sie zugleich Wissenschaftspropädeutik, denn sie führen ihre Schülerinnen und Schüler damit auch in grundlegende Erkenntnisse und Theorien der Psychologie ein, machen sie mit psychologischen Methoden vertraut und geben ihnen Kriterien an die Hand, um wissenschaftlich fundierte Aussagen von nicht fundierten zu unterscheiden. Wissenschaftspropädeutik wird somit als ein Teil der Lebenshilfe angesehen, die der Psychologieunterricht geben kann.

 

Diese Synthese funktioniert unter der Voraussetzung, daß die Fragen und Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie für die Schülerinnen und Schüler tatsächlich von Belang sind, ihre gegenwärtige oder auch künftige Lebensführung erkennbar betreffen und darauf anwendbar sind."

 

(Bovet, 1993; S. 138; Hervorhebung und Einschub in Klammern: G.S.)

Letztere Voraussetzung scheint uns aber insbesondere nach der zweiten Konsensannahme erfüllt zu sein.

2.2 Psychologische Erklärungs- und Handlungsmodelle aus unterschiedlichen Paradigmen

a) Jedes psychologische Paradigma („Schule", „Hauptströmung", „Richtung") hat eine andere Perspektive, aus der es seinen Gegenstand betrachtet. Schlimmer noch: jedes psychologische Paradigma hat sogar andere Gegenstände! (Die einen betrachten „das Unbewußte", das es für andere gar nicht gibt; wieder andere untersuchen „rationale Entscheidungen", die es wiederum für erstere grundsätzlich nicht geben kann!). Jedes Paradigma kommt aber auch zu anderen Schlußfolgerungen für seine Handlungsmodelle. Jedes bewertet psychische Vorgänge anders.

 

b) Im Anschluß an die Überlegungen in Teil I ist nun zu fragen:

Wie kann die Schule im wissenschaftlichen Unterricht möglichst früh die Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven einüben? Aus dem oben Gesagten folgt, daß am Ende (!) des wissenschaftlichen Unterrichts, neben einer schulstufen-angemessenen inhaltlichen Fachkompetenz, die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Perspektivwechsel stehen sollte.

 

SchülerInnen sollten selbst die Erfahrung machen, daß trotz erster, spontaner Abneigung (aufgrund von Vor-„Wissen" oder „prinzipiellen Erwägungen") sich der Reiz und die Fruchtbarkeit eines psychologischen Entwurfs dennoch erleben läßt, wenn man sich nur gründlich (!) auf ihn einläßt. Dies erscheint von zentraler Bedeutung.

 

c) Eine enzyklopädische Darstellung der Psychologie kann aber diese Erfahrung ebensowenig vermitteln wie eine Darstellung, die die „Überlegenheit" eines psychologischen Ansatzes vor anderen propagiert (auch wenn dies scheinbar rational und argumentativ geschieht).

 

Eher geeignet scheint da der häufigere Wechsel von der charakteristischen „Sichtweise" einer psychologischen „Richtung" („Schule", „Hauptströmung" oder „Paradigma") in eine andere.

Dabei kommt es darauf an, sich mit

  • der jeweiligen Vorstellung vom Psychischen,
  • der jeweiligen Sicht vom Menschen und
  • den typischen Forschungsmethoden

exemplarisch zwar, aber so intensiv wie möglich auseinanderzusetzen.

 

d) Tatsächlich sollte dies zunächst völlig „unkritisch" geschehen, denn sonst lernt man nur zu sehen, wie die Kritiker (und die sitzen unweigerlich in einer anderen „Schule"). Danach aber bringt der „Sprung" ins andere Paradigma, die Wahrnehmung der einen Hauptströmung durch die Brille der andern, den ausschlaggebenden Perspektivenwechsel.

 

3. Die Rahmenrichtlinien
  • Was kann man durch Perspektivenwechsel lernen?
  • Wie kann man die obigen Vorstellungen methodisch organisieren? 
  • Wie lassen sich die notwendigen Perspektivwechsel in ein organisch zusammenhängendes Ganzes des Unterrichts integrieren? (zwei ausführliche Beispielsequenzen im Anhang
Literatur
  • Die neueste Untersuchung zum Psychologieunterricht:

Bovet, G. (1993). Wie sieht guter Psychologieunterricht aus? Frankfurt/M: Lang.

 

  • Über die Ästhetik des Andersseins:

Welsch, W. (1993). Ästhetisches Denken. Stuttgart, Reclam. (DM 9,-)

Leicht lesbare Einführungen zur „Postmoderne-Diskussion"; Zusammenfassende Einleitung des Herausgebers sowie Aufsätze von Foucault, Lyotard und Derrida:

Engelmann, P. (Hrsg.) (1991). Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Sturrgart: Reclam.

 

  • Mit Querverbindungen zum Radikalen Konstruktivismus und zur Systemischen Therapie:

Fischer, H.R., Retzer, A. & Schweitzer, J. (Hrsg.) (1992). Das Ende der großen Entwürfe. Frankfurt/M: Suhrkamp. darin insbesondere: Welsch, W. (1992). Topoi der Postmoderne. (S. 35-55), (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft: DM 16,-)

 

  • Bekanntestes Werk Lyotards, klar geschrieben, auch für „Einsteiger":

Lyotard, J.-F. (1993). Das postmoderne Wissen (Herausgegeben von P. Engelmann). Wien: Passagen.

 

  • Übersicht über Lyotards Gesamtwerk:

Reese-Schäfer, W. (1989). Lyotard zur Einführung. Hamburg: Junius-Verlag. (DM 17,50)

 

  • Nach seiner Abkehr vom Positivismus wurde er mit der Theorie des „Sprachspiels" der „Urvater" der Postmoderne-Konzeption:

Wittgenstein, L. (1984). Philosophische Untersuchungen. In L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen (S. 225-580). Frankfurt/M: Suhrkamp. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft: DM 28,-)