Aus der Praxis des Psychologieunterrichts: Beispiel für ein Unterrichtsexperiment
Das Tachistoskop-Experiment von Siipola zur verbalen Induzierung unterschiedlich hoher Erfassungsschwellen (Unterrichtsversion in Computersimulation)
Versuchsverlauf: Die Erfassungsschwelle für die bewußte Verarbeitung von wahrgenommenen Reizen hängt ab von der Voreinstellung ("setting"), die wir in bezug auf ein Wahrnehmungsobjekt haben:
In einer verkürzten Version des klassischen Experiments von Siipola erhält zunächst die Hälfte der beteiligten Versuchspersonen (ohne Wissen der anderen) die Vorinformation, es würden nun "Vogelnamen" gezeigt, die andere Häfte wird entsprechend informiert, sie bekäme "Begriffe für Eßbares" zu sehen. Die Versuchspersonen werden instruiert, die dargebotenen Wörter so früh wie möglich zu erkennen, und in jedem Fall hinzuschreiben, was sie erkannt haben, auch wenn sie glauben, es sei falsch.
Nun werden (mithilfe eines Computerbildschirms) acht Wörter sehr kurz tachistoskopisch dargeboten (am Anfang mit ca. 1/100 Sekunde Darbietungsdauer):
- vier Vogelnamen (Amsel, Spatz, Reiher, Storch)
- und vier Begriffe für Eßbares (Apfel, Kuchen, Butter, Wurst).
Zunächst erkennt bei solch kurzer Darbietungsdauer keine der Versuchpersonen irgendein Wort. Die Darbietungszeit wird aber stetig (immer um 1/100 Sekunde) verlängert (bei Veränderung der Reihenfolge), bis die Versuchspersonen zunächst einzelne, dann immer mehr Wörter lesen können.
Für jedes der acht Wörter wird so festgehalten, wie lange es dargeboten werden muß, bis es zum ersten Mal richtig gelesen werden kann. Diese minimale Darbietungsdauer ist ein Maß für die wortspezifische "Erfassungsschwelle". Das Experiment mißt so für jede teilnehmende Versuchsperson die individuelle Erfassungsschwelle für die vier Vogelnamen und der vier Begriffe für Eßbares.
Ein Vergleich der beiden Gruppen zeigt nun, daß die Erfassungsschwellen für diejenige Wortklasse, auf die die Gruppe voreingestellt war, deutlich niedriger ligen als die Schwellen für die jeweils andere Wortgruppe.
Folgerung: Sind wir darauf eingestellt, ein bestimmtes Objekt oder eine bestimmte Art von Objekten wahrzunehmen, so sinkt unsere Erfassungsschwelle. Umgekehrt ist die Erfassungsschwelle für die bewußte Verarbeitung unerwarteter und unbekannter Dinge höher. Es gilt also insgesamt:
Erwartetes nehmen wir eher wahr als Unerwartetes. Für Unerwartetes liegt unsere Wahrnehmungsschwelle höher, es braucht eine größere Intensität, um erkannt zu werden.
Inhaltliche Unterrichtsbezüge
1.Reflexion der unmittelbaren Erlebens (als Versuchsperson im Experiment): z.B.: Bemerken wir erhöhte Wahrnehmungsschwellen? Was geschieht, wenn wir Ungereimtheiten wahrnehmen?
2.Theoretische Erklärung des Phänomens mit Hilfe von Informations-Speicher-Modellen bzw. der „Hypothesentheorie der Wahrnehmung" (Bruner&Postman)
3.Erörterung der Alltagsrelevanz des Phänomens, z.B.:
- Wirkung von Werbung: In Supermarktregalen erkennt man die durch Werbung bekannten Verpackungen spontan zuerst. (z.B. Zigaretten)
- In ungewohnten Formen der Kunst (z.B. Musik oder Malerei) erkennen wir zunächst nur bekannte Elemente (z.B. Stimmen, Melodien, Instrumente oder gegenständliche Figuren).
- Problemlösendes Denken: Bei Problemen erkennen wir spontan zunächst nur die bekannten und gewohnten Lösungsformen.
- Aufrechterhaltung sozialer Vorurteile: Selbstbestätigungstendenz von Vorwissen / Vorurteilen durch Steuerung der Wahrnehmung
4. Weiterverwendung in späteren Unterrichtszusammenhängen
- Sozialpsychologie: Verfestigung von Attributionen, Grundlage für das Zustandekommen von self-fulfilling prohecies
- Werbepschologie: Grundlage für eine Werbestrategie (z.B. „Bandenwerbung" in Stadien)